Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Tim Henning

Tim Henning

Professor für Praktische Philosophie an der Universität Mainz

Was ist Ihre erste Erinnerung an einen philosophischen Gedanken?

Ich bin unsicher, ob es wirklich die erste Erinnerung ist – jedenfalls weiß ich noch, wie ich eines Tages auf den Satz vom zureichenden Grunde gestoßen bin. In einer TV-Dokumentation im Vorabendprogramm war die Rede von „unerklärlichen“ Naturphänomenen. Und in mir hat sich Protest angemeldet. Nichts, habe ich gedacht, geschieht „einfach so.“ Und kurz darauf habe ich mich gefragt, woher ich diese Gewissheit eigentlich nehme.

Welches Thema erhält in der Philosophie zu wenig Aufmerksamkeit?

In der Philosophie geht es zwar darum, wie alles mit allem zusammenhängt. Trotzdem sind es oft die Verbindungen zwischen den Subdisziplinen, die etwas zu kurz kommen. So gibt es aufschlussreiche Parallelen zwischen Debatten in der Metaethik und in der Philosophie der Mathematik. Die Natur der Gegenstände in den beiden Bereichen oder die Möglichkeit des Wissens um sie werfen sehr ähnliche Fragen auf. Da gäbe es viel voneinander zu lernen.

Wie halten Sie es mit der Religion?

Ich ringe mit ihr. Ohne dass es mein Spezialgebiet wäre, scheint mir doch, dass einige theistische Argumente besser sind als ihr aktueller Leumund. Und viele atheistische Einwände erschienen mir immer als etwas platt – bis auf das Problem des Übels, das ich sehr ernst nehme. Jedenfalls: Meine Haltung ändere ich manchmal sogar mehrmals am Tag.

Was stört Sie an der akademischen Philosophie?

Ihr schlechter Ruf. Aller Kritik zum Trotz scheint mir, dass wir in einer florierenden und interessanten Phase der Philosophiegeschichte unterwegs sind. Damit meine ich durchaus auch die oft gescholtene analytische Philosophie mit ihren Prestige-Zeitschriften und ihrem hohen Professionalisierungsdruck (und ja, ihren trolley cases). Es ist zwar gerade nicht die Zeit der „Zauberer“ und der magna opera. Aber die Qualität ist konsistent hoch. In jenen Zeitschriften wird fast nie etwas publiziert, das dumm oder geschwätzig wäre oder das nicht auf irgendeine Weise einen gedanklichen Fortschritt erzielt.

Was können wir aus der Philosophiegeschichte lernen?

Die Fragen der Philosophie sind dermaßen abstrakt, miteinander verknüpft und vielschichtig, dass wir auf keine Idee aus ihrer langen Geschichte verzichten können. Wir kämen keinen Millimeter voran, ohne präsent zu haben, welche Antworten bereits versucht wurden, was ihre Stärken waren, auf welche weiteren Fragen sie führten. Geschichtsvergessenheit können sich nur Fächer mit einfacheren Fragen leisten.

Worauf kommt es Ihrer Ansicht nach besonders an, wenn man für die Öffentlichkeit schreibt?

Auf den Mut, die Geduld der Leserschaft zu strapazieren. Was die Philosophie Wertvolles beizutragen hat, hat nicht die Form von Resultaten, sondern von Argumenten, Differenzierungen und Einwänden. Darunter sollten wir es nicht machen.

Welche philosophische Auffassung, von der Sie einmal überzeugt waren, haben Sie aufgegeben?

Ich habe eine On-off-Beziehung mit der Überzeugung, dass „die Anzahl zählt“ – der These also, dass wir in einem Konflikt und unter ansonsten gleichen Umständen verpflichtet sind, eine größere Gruppe statt einer kleineren Gruppe von Menschen vor einem Übel zu retten. – Generell macht es mir aber Freude, wenn ich meine philosophische Meinung ändern muss. Ich klebe nicht an meinen Thesen.

In welcher Umgebung können Sie am besten philosophieren?

Immer da, wo es eigentlich gerade gar nicht passt.

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