Was ich noch sagen woll­te

Phil­Pu­bli­ca stellt vor

Titelbild: Holger Lyre

Hol­ger Lyre

Pro­fes­sor für Theo­re­ti­sche Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Mag­de­burg

Was war Ihr ers­ter „rich­ti­ger“ Kon­takt mit der Phi­lo­so­phie?

Schon in frü­hen Ju­gend­jah­ren hatte ich von „Phi­lo­so­phie“ ge­le­sen, wuss­te aber lange nicht genau, was ich dar­un­ter zu ver­ste­hen hatte. Schließ­lich kam das erste Halb­jahr des Philosophie-​Grundkurses der Ober­stu­fe. Wir dis­ku­tier­ten Kants be­rühm­te Pas­sa­ge zur Ko­per­ni­ka­ni­schen Wende aus der Vor­re­de zur zwei­ten Auf­la­ge der Kri­tik der rei­nen Ver­nunft. Der dort vor­ge­stell­te Ge­dan­ke, dass die Welt sich in ge­wis­ser Weise nach un­se­rem Er­kennt­nis­ver­mö­gen rich­tet, hat mich wie der Blitz ge­trof­fen. Ich er­leb­te, viel­leicht zum ers­ten Mal, die Fas­zi­na­ti­on und Ge­nug­tu­ung eines wahr­haft tie­fen Ge­dan­kens. Vor allem in den Jah­ren des Stu­di­ums folg­ten zahl­rei­che Er­leb­nis­se die­ser Art in Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft. Für mich waren und sind sol­che Mo­men­te der ei­gent­li­che An­sporn – und ich ver­mu­te, ich bin da nicht al­lein. Lei­der wer­den sie mit stei­gen­dem Alter und Er­fah­rung immer sel­te­ner.

Könn­ten Sie phi­lo­so­phi­sche „Hel­den“ be­nen­nen?

Ich nenne zu­nächst Kant und Weiz­sä­cker, auch wenn ich ihre grund­sätz­li­chen Po­si­tio­nen heute nicht mehr teile. Aber der Ein­fluss ihres Den­kens auf mich war zwei­fel­los groß. An­sons­ten: Hume, Witt­gen­stein und Den­nett.

Wür­den Sie Ihren Kin­dern dazu raten, Phi­lo­so­phie zu stu­die­ren?

Ja, aber nie als al­lei­ni­ges Fach, son­dern nur im Ver­bund mit einer an­de­ren Dis­zi­plin. Das war auch der Weg, den ich per­sön­lich in die Phi­lo­so­phie ge­nom­men habe: Ich be­gann als Phy­si­ker, habe mich dann den phi­lo­so­phi­schen Grund­la­gen der Na­tur­wis­sen­schaf­ten zu­ge­wen­det und bin schließ­lich ganz in die aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phie über­ge­wech­selt. Eine an­de­re Mög­lich­keit bil­den in­ter­dis­zi­pli­nä­re Stu­di­en­gän­ge wie unser Mag­de­bur­ger Pro­gramm „Phi­lo­so­phie – Neu­ro­wis­sen­schaf­ten – Ko­gni­ti­on“. Wer die­ses Pro­gramm mit guten Leis­tun­gen ab­sol­viert, er­wirbt etwas sehr Wert­vol­les: eine Dop­pel­qua­li­fi­ka­ti­on in Geistes-​ und Na­tur­wis­sen­schaf­ten (im päd­ago­gi­schen Neu­sprech: eine Quer­schnitts­kom­pe­tenz).

Wel­che phi­lo­so­phi­sche Auf­fas­sung, von der Sie ein­mal über­zeugt waren, haben Sie auf­ge­ge­ben?

Mein spe­zi­fi­scher Ein­stieg in die Phi­lo­so­phie waren die In­ter­pre­ta­ti­ons­pro­ble­me der Quan­ten­theo­rie (also Fra­gen nach Mess­pro­zess, Rea­lis­mus und Rolle des Be­ob­ach­ters). Hier habe ich sehr bald eine anti-​realistische und dann eine spe­zi­ell kan­ti­sche Po­si­ti­on ein­ge­nom­men. Mein phi­lo­so­phi­scher Zieh­va­ter wurde Carl Fried­rich von Weiz­sä­cker. Ich ver­dan­ke auch mei­nem Dok­tor­va­ter, Mi­cha­el Drie­sch­ner, sei­ner­seits Weizsäcker-​Doktorand, in die­ser Hin­sicht sehr viel. Weiz­sä­cker ver­folg­te das he­roi­sche Ziel einer Quan­ten­theo­rie a prio­ri und eines dar­auf fu­ßen­den Grund­la­gen­pro­gramms zur Ein­heit der Phy­sik. Ich war ab­so­lut fas­zi­niert und wurde ein en­ga­gier­ter Mit­strei­ter. Erst nach der Pro­mo­ti­on be­gann ich die vor allem mathematisch-​technischen De­fi­zi­te des Pro­gramms wahr­zu­ha­ben und ent­wi­ckel­te mich phi­lo­so­phisch mehr und mehr zum wis­sen­schaft­li­chen Rea­lis­ten. In al­ler­jüngs­ter Zeit kom­men mir auch hier wie­der Zwei­fel. Sie spei­sen sich nun nicht mehr aus den phi­lo­so­phi­schen Pro­ble­men der Phy­sik (die nach wie vor un­ge­löst sind), son­dern aus er­kennt­nis­theo­re­ti­schen Kon­se­quen­zen der Neu­ro­ko­gni­ti­on und KI.

Wo ver­or­ten Sie sich auf der phi­lo­so­phi­schen Land­kar­te? Wel­chen phi­lo­so­phi­schen Po­si­tio­nen ste­hen sie am nächs­ten?

Rund­her­aus: Ich neige einem Phy­si­ka­lis­mus, Rea­lis­mus und Re­duk­tio­nis­mus zu. Schon jede ein­zel­ne die­ser Po­si­tio­nen gilt vie­len als „po­li­tisch in­kor­rekt“, aber dann auch noch im Drei­er­bund!? Vor allem in den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten sind mo­di­sche Ab­wehr­re­fle­xe ge­gen­über jeder die­ser Po­si­tio­nen weit­ver­brei­tet. Lei­der, und das muss ich hier zu Pro­to­koll geben, haben diese Re­fle­xe nicht sel­ten mit einem be­kla­gens­wer­ten Man­gel an Kennt­nis­sen in den for­ma­len und em­pi­ri­schen Wis­sen­schaf­ten zu tun. Und trotz die­ser of­fen­kun­di­gen Män­gel ist er­schre­ckend vie­len Phi­lo­soph*innen aus ge­wis­sen La­gern nicht bange, star­ke Be­haup­tun­gen ohne große in­tel­lek­tu­el­le Selbst­zwei­fel auf­zu­stel­len. Das ver­stört mich immer wie­der aufs Neue.

Ist die Phi­lo­so­phie eine Wis­sen­schaft?

Idea­ler­wei­se ja, de facto lei­der nein. Denn es ist ein Fak­tum, dass es pro­fes­sio­nel­le Phi­lo­soph*innen gibt, zu deren Dok­trin es ge­hört, die Frage zu ver­nei­nen. Ich per­sön­lich – und nach mei­ner Wahr­neh­mung auch die große Mehr­heit – sehe es an­ders. Im Mit­tel­punkt phi­lo­so­phi­scher Ar­beit steht das sys­te­ma­ti­sche und me­tho­di­sche Ar­gu­men­tie­ren. Das ist eine müh­sa­me und her­aus­for­dern­de An­ge­le­gen­heit, die ge­lernt sein will und unter me­tho­di­schen Stan­dards steht. Phi­lo­so­phie­re­rei ohne diese me­tho­di­sche An­stren­gung ist im bes­ten Fall un­ter­halt­sa­me Spe­ku­la­ti­on, im schlech­tes­ten Fall ein­fach nur Hum­bug. Hinzu kommt: Zu (fast) jeder phi­lo­so­phi­schen Frage gibt es heute re­le­van­te Fach­wis­sen­schaf­ten, die fun­dier­te em­pi­ri­sche Kennt­nis­se be­reit­stel­len. Die Phi­lo­so­phie ist un­be­dingt ge­hal­ten, diese Kennt­nis­se mit ein­zu­be­zie­hen. Sie ist daher auch nicht die Kö­ni­gin der Wis­sen­schaf­ten, aber ein wich­ti­ges In­stru­ment im wis­sen­schaft­li­chen Or­ches­ter.

Er­hält die Phi­lo­so­phie zu wenig Auf­merk­sam­keit?

Fast möch­te ich sagen: lei­der nein, denn häu­fig er­hal­ten fal­sche Pro­phe­ten Auf­merk­sam­keit über Ge­bühr, ge­ra­de in den Me­di­en. Phi­lo­so­phie als Wis­sen­schaft, also die so­eben be­schrie­be­ne me­tho­disch und sys­te­ma­tisch stren­ge Phi­lo­so­phie er­hält zu wenig Auf­merk­sam­keit. Sie stellt auch eine ge­wis­se Über­for­de­rung für die Me­di­en dar und ent­spricht nicht dem immer noch vor­herr­schen­den naiv-​romantischen Bild von der Phi­lo­so­phie als wort­ge­wal­tig und ne­bu­lös, einem lei­der bis in die Feuilleton-​Redaktionen der so­ge­nann­ten Qua­li­täts­me­di­en do­mi­nan­ten Vor­ur­teil. Hier­an kön­nen letzt­lich nur wir, die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen in der wis­sen­schafts­ori­en­tier­ten Phi­lo­so­phie etwas än­dern. Man muss sich dann al­ler­dings damit ar­ran­gie­ren, dass der Gang in die me­dia­le Öf­fent­lich­keit ty­pi­scher­wei­se mit Ver­kür­zun­gen und Ver­zer­run­gen ein­her­geht. Phil­Pu­bli­ca ist in­so­fern ein gute In­itia­ti­ve.

Woran ar­bei­ten Sie ge­ra­de?

Mein Dau­er­the­ma lau­tet Struk­tu­ra­lis­mus. Man könn­te es grob so dar­stel­len: In den ers­ten gut fünf­zehn Jah­ren mei­ner Tä­tig­keit habe ich mich im Rah­men der Phi­lo­so­phie der Phy­sik mit den Grund­la­gen der Natur be­schäf­tigt, der Ob­jekt­sei­te also. In den zwei­ten, mitt­ler­wei­le ver­gan­ge­nen fünf­zehn Jah­ren habe ich mich mehr und mehr auf das Men­ta­le und somit auf die Sub­jekt­sei­te fo­kus­siert. Beide Male bin ich zu der Über­zeu­gung ge­kom­men, dass ein Struk­tu­ra­lis­mus die weit­aus plau­si­bels­te Kon­zep­ti­on bie­tet. Das heißt: ich ver­tre­te, wie üb­ri­gens viele, einen Struk­tu­renrea­lis­mus be­züg­lich der Natur, denn diese Po­si­ti­on ist am ehes­ten mit der mo­der­nen Phy­sik ver­träg­lich. Nach die­ser Auf­fas­sung sind die fun­da­men­ta­len En­ti­tä­ten un­se­rer Welt on­to­lo­gisch aus­schließ­lich über re­la­tio­na­le Ei­gen­schaf­ten in­di­vi­du­iert. Gleich­zei­tig lässt sich un­se­re Er­kennt­nis der Welt am plau­si­bels­ten auf der Basis struk­tu­ra­ler men­ta­ler Re­prä­sen­ta­tio­nen ver­ste­hen. Und hier denke ich nicht nur an In­ten­tio­na­li­tät, son­dern auch an phä­no­me­na­les Be­wusst­sein. Objekt-​ und Sub­jekt­sei­te nun zu­sam­men zu den­ken, ist mein noch of­fe­nes, über­ge­ord­ne­tes Pro­jekt.

Und wel­che Be­deu­tung hat Künst­li­che In­tel­li­genz für Sie?

Ich bin über­zeugt: wir er­le­ben eine Zei­ten­wen­de von der Grö­ßen­ord­nung der Ein­füh­rung des Buch­drucks oder der Dampf­ma­schi­ne. KI ist keine Tech­no­lo­gie wie jede an­de­re. Sie birgt die völ­lig neu­ar­ti­ge Mög­lich­keit in sich, sich ab einer ge­wis­sen Schwel­le aus ei­ge­ner Kraft zu be­schleu­ni­gen und den Men­schen zu über­flü­geln. KI ist zwar kein neues Thema, aber erst mit den Deep Learning-​Durchbrüchen neu­ro­na­ler KI und den Selbstlern-​Fähigkeiten ge­ne­ra­ti­ver Mo­del­le ab den 2010er Jah­ren kommt die nun all­seits sicht­ba­re, un­ge­heu­re Be­schleu­ni­gung ins Spiel, die glei­cher­ma­ßen fas­zi­nie­rend wie alar­mie­rend ist.

In­wie­fern ist sie alar­mie­rend?

Wir müs­sen ver­ste­hen, dass mensch­li­ches Den­ken nicht der al­lei­ni­ge Maß­stab für In­tel­li­genz und Ko­gni­ti­on ist, son­dern dass es an­ders­ar­ti­ge For­men gibt, die uns in man­chen Hin­sich­ten un­ter­le­gen, in an­de­ren aber bei wei­tem über­le­gen sind. Avan­cier­te KI-​Systeme sind wie eine an­de­re Spe­zi­es. Die häu­fig dis­ku­tier­te Frage nach KI-​Bewusstsein steht für mich dabei gar nicht mal im Vor­der­grund, statt des­sen die Mög­lich­keit, dass avan­cier­te Sys­te­me die Fä­hig­keit er­lan­gen, stär­ke­re Sys­te­me her­vor­zu­brin­gen. Auch wir Men­schen be­sit­zen diese Fä­hig­keit, und es wäre falsch und fatal, sich da­hin­ge­hend zu be­ru­hi­gen, dass dies KI-​Systemen ver­sperrt ist.

Was ich noch sagen woll­te

Zu viel Phi­lo­so­phie ist nicht gut, aber an guter Phi­lo­so­phie kann es nicht zu viel geben.

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