Was ich noch sagen woll­te

Phil­Pu­bli­ca stellt vor

Titelbild: Sabine Döring

Sa­bi­ne Dö­ring

Pro­fes­so­rin für Prak­ti­sche Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Tü­bin­gen  

Wel­cher phi­lo­so­phi­sche Text hat Ihr Leben ver­än­dert?

Ro­bert Mu­sils so­ge­nann­te „Ge­fühls­psy­cho­lo­gie“, und zwar lange bevor Musil über­haupt als Phi­lo­soph be­trach­tet wurde. Musil ent­wi­ckelt hier eine kom­ple­xe Theo­rie dar­über, wie Emo­tio­nen un­se­re Wahr­neh­mung be­stim­men, die mei­nen ei­ge­nen An­satz maß­geb­lich ge­prägt hat.

Woran ar­bei­ten Sie ge­ra­de?

Immer noch zu den Emo­tio­nen. Mich in­ter­es­siert zu­neh­mend ihre Rolle im Zu­sam­men­le­ben und der Po­li­tik. Meine Hy­po­the­se ist, dass Emo­tio­nen wie Angst, Res­sen­ti­ment, Em­pö­rung oder Bil­li­gung als „kol­lek­ti­ve Emo­tio­nen“ zwar in­di­vi­du­ell er­lebt wer­den, aber vor­aus­set­zen, dass das In­di­vi­du­um Teil einer Ge­mein­schaft ist. Damit möch­te ich dazu bei­tra­gen, sol­che Emo­tio­nen bes­ser zu ver­ste­hen und ins­be­son­de­re zu klä­ren, unter wel­chen Be­din­gun­gen sie in einer Ge­mein­schaft sich wech­sel­sei­tig als frei und gleich an­er­ken­nen­der In­di­vi­du­en an­ge­mes­sen sein kön­nen. Teil die­ses (nicht zu­letzt auf Peter Straw­sons „re­ak­ti­ve Ein­stel­lun­gen“ zu­rück­ge­hen­den) Pro­jek­tes ist auch die Frage nach der Ra­tio­na­li­tät und Mo­ra­li­tät un­se­rer Ein­stel­lun­gen zu Ri­si­ko und Un­si­cher­heit. Die Pan­de­mie hat uns deut­li­cher denn je vor Augen ge­führt, dass un­se­re Hand­lun­gen ex­ter­ne Ef­fek­te haben, auch un­be­dach­te oder un­be­ab­sich­tig­te. Das müs­sen wir un­se­ren Ent­schei­dun­gen be­rück­sich­ti­gen. Diese Ein­sicht ist zu­gleich grund­le­gend für ein re­flek­tier­tes Ver­ständ­nis von Frei­heit.

Was au­ßer­halb der Phi­lo­so­phie hat Sie am meis­ten ge­prägt?

Der Um­gang mit Pfer­den und do­mes­ti­zier­ten Tie­ren all­ge­mein. Wem hier die Er­fah­rung und Ex­per­ti­se fehlt, der wird zwangs­läu­fig dazu nei­gen, Tiere ent­we­der wie Men­schen oder wie Wild­tie­re zu ver­ste­hen. Bei­des ist falsch.

Wel­ches Vor­ur­teil ge­gen­über aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phen är­gert sie am meis­ten?

Viele Nicht-​Philosophen gehen ir­ri­ger­wei­se davon aus, dass Phi­lo­so­phie keine me­tho­di­schen und be­griff­li­chen Grund­kennt­nis­se vor­aus­setzt: „Jeder ist ein Phi­lo­soph“; „aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phen ‚phi­lo­so­phie­ren‘ ja auch bloß“. In Wahr­heit ist Phi­lo­so­phie me­tho­disch nicht we­ni­ger an­spruchs­voll als etwa Ma­the­ma­tik oder Phy­sik. Teil­wei­se tra­gen wir aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phen zu die­sem Vor­ur­teil selbst bei, wenn wir näm­lich nicht dafür sor­gen, dass man einen Ab­schluss in Phi­lo­so­phie nur mit den er­for­der­li­chen Grund­kennt­nis­sen er­wer­ben kann. Wir sind ge­for­dert, nicht nur über un­se­re je­wei­li­gen Ste­cken­pfer­de zu leh­ren.

Ist es immer gut, ver­nünf­tig zu sein?

Ein an­ge­mes­se­nes und nicht un­ter­kom­ple­xes Ver­ständ­nis von Ver­nunft vor­aus­ge­setzt: ja. Viel­fach wer­den Ver­nunft und Emo­ti­on als Op­po­nen­ten be­trach­tet. Hat man die Emo­tio­nen aber ein­mal in die Ver­nunft in­te­griert, er­wei­sen sich Kon­flik­te zwi­schen dem, was man für wahr hält, und wi­der­spens­ti­gen Emo­tio­nen als un­ver­zicht­ba­re ra­tio­na­le Kon­flik­te: Ohne die Emo­tio­nen kämen wir manch­mal gar nicht zu be­stimm­ten Ein­sich­ten.

Kön­nen Sie dafür ein Bei­spiel geben?

Das Stan­dard­bei­spiel stellt Mark Twain be­reit: Nach­dem Huck­le­ber­ry Finn dem Skla­ven Jim zur Flucht ver­hol­fen hat, über­kom­men ihn Ge­wis­sens­bis­se, und er ent­schließt sich, Jim den Skla­ven­jä­gern aus­zu­lie­fern. Doch dann sieht er sich genau das Ge­gen­teil tun: Statt Jim zu ver­ra­ten, lügt er, um Jim zu be­schüt­zen. Es sind seine wach­sen­de Freund­schaft und sein Mit­ge­fühl mit Jim, die Huck dazu be­we­gen, etwas zu tun, was nach allen ihm ver­trau­ten Mo­ral­prin­zi­pi­en falsch ist. Was die­ses Bei­spiel in­ter­es­sant macht, ist, dass Hucks af­fek­ti­ve Wahr­neh­mung von Jim als einem frei­en und glei­chen Men­schen, ja Freund, nicht aus den Mo­ral­prin­zi­pi­en folgt, die er bis­her ak­zep­tiert hatte. Viel­mehr sind es seine Emo­tio­nen, die Huck am Ende dazu be­we­gen, neue und bes­se­re Mo­ral­prin­zi­pi­en zu for­mu­lie­ren. Er ge­langt durch seine Ge­füh­le zur ver­nünf­ti­gen Ein­sicht, dass man manch­mal lügen darf.

Warum schrei­ben Sie für die au­ßer­aka­de­mi­sche Öf­fent­lich­keit?

Phi­lo­so­phi­sche Ein­sich­ten wer­den in der Öf­fent­lich­keit zu wenig wahr­ge­nom­men. Po­si­tio­nen, die wir in der öf­fent­li­chen De­bat­te unter dem Namen „Phi­lo­so­phie“ vor­fin­den, spie­len in der wis­sen­schaft­li­chen De­bat­te oft­mals keine Rolle, und die zu­grun­de­lie­gen­de Ar­gu­men­ta­ti­on un­ter­schrei­tet oft­mals me­tho­di­sche Mi­ni­mal­stan­dards. Ich möch­te dazu bei­tra­gen, dies zu än­dern. Wie alle Wis­sen­schaft ist Phi­lo­so­phie kom­plex, ab­wä­gend, es gibt wi­der­strei­ten­de Po­si­tio­nen, und diese wer­den auch noch stän­dig re­vi­diert. In der Phi­lo­so­phie kommt noch hinzu, dass es schwie­rig zu sein scheint, Nicht-​Philosophen die spe­zi­fisch phi­lo­so­phi­sche Her­an­ge­hens­wei­se na­he­zu­brin­gen. Ein Grund hier­für ist, dass Phi­lo­so­phie ty­pi­scher­wei­se als selbst­ver­ständ­lich Er­ach­te­tes (ra­di­kal) in Frage stellt.
 

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