Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Andreas Cassee

Andreas Cassee

Juniorprofessor für Politische Philosophie an der Universität Mannheim

Woran arbeiten Sie gerade?

Aktuell denke ich gerade über das Stiftungsrecht nach: Sollte eine Eigentümerin das Recht haben, über ihren eigenen Tod hinaus verbindliche Entscheidungen darüber zu fällen, wie eine Ressource genutzt werden soll? Meine These lautet, dass wir nicht nur in der Pflicht stehen, zukünftigen Generationen eine intakte physische Umwelt zu hinterlassen, sondern auch Pflichten mit Blick auf die normative Umwelt haben, die wir der Nachwelt hinterlassen. Wenn wir zukünftige Generationen daran hindern, ähnlich frei über Ressourcen zu verfügen wie wir, dann ist das eine problematische Form von „normativer Verschmutzung“.

Welcher philosophische Text hat Ihr Leben verändert?

Der Aufsatz Aliens and Citizens von Joseph Carens hat mich zu meiner Dissertation über globale Bewegungsfreiheit inspiriert. Ohne diesen Text wäre mein Berufsweg möglicherweise ganz anders verlaufen. Es gibt eine schöne Anekdote zur Veröffentlichungsgeschichte dieses Papers: Weil es damals noch keine etablierte philosophische Debatte über Migration gab, hatte Carens alle Mühe, seinen Aufsatz zu publizieren. Ein von einer renommierten Zeitschrift bestelltes Gutachten kam zum Schluss, Carens’ Thesen seien so offensichtlich falsch, dass sie es nicht wert seien, veröffentlicht zu werden. Ein zweites Gutachten derselben Zeitschrift gelangte zur Ansicht, Carens’ Überlegungen seien auf geradezu banale Weise richtig – und deshalb nicht veröffentlichungswürdig. Am Ende erschien der Text in einer wenig bekannten Zeitschrift. Heute zählt er zu den meistzitierten Werken der Migrationsethik.

Über welche Frage sollte nicht die Mehrheit entscheiden?

Über die Frage, wer zum demos zählt, dessen Mitglieder befugt sind, verbindliche Mehrheitsentscheide zu fällen. Jedenfalls sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, wir hätten es mit einer demokratischen Entscheidung zu tun, wenn eine exklusive Gruppe von Bürger:innen per Mehrheitsentscheid anderen Rechtsunterworfenen die Mitbestimmungsrechte verwehrt. (Man denke an die historische Ablehnung des Frauenstimmrechts durch eine Mehrheit der Schweizer Männer oder aktuell an die Verweigerung der politischen Mitbestimmungsrechte für niedergelassene Ausländer:innen.)

Was spricht gegen Philosophenkönige?

Einmal abgesehen vom offensichtlichen Problem der mangelnden demokratischen Legitimität: Philosoph:innen sind nicht unbedingt Expert:innen für gute Kompromisse. In der Philosophie geht es darum, Dissense möglichst genau zu lokalisieren und kompromisslos nach dem besseren Argument zu suchen. In der Politik geht es hingegen darum, Lösungen zu finden, mit denen alle einigermaßen leben können. Dafür muss man auch mal großzügig über grundlegende Differenzen hinwegsehen können – nicht gerade eine Kernkompetenz der Philosophie.

Was stört Sie an der akademischen Philosophie?

Die langen Jahre beruflicher Unsicherheit zwischen der Dissertation und einer allfälligen unbefristeten Stelle. Diese Jobunsicherheit schadet nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch dem Fach: Insbesondere Philosoph:innen, in deren Herkunftsfamilien ökonomische Sicherheit keine Selbstverständlichkeit war, steigen oft aus – mit dem Ergebnis, dass die Professorenschaft bezüglich sozialer Herkunft wenig divers ist.

Warum schreiben Sie für die außerakademische Öffentlichkeit?

Weil das Privileg, beruflich über politische Fragen nachdenken zu dürfen, meinem Verständnis nach auch eine Pflicht begründet, sich an politischen Debatten zu beteiligen. Und weil es Spaß macht, Texte zu schreiben, die nicht nur von zwei, drei akademischen Kolleg:innen gelesen werden.

Was würden Sie gerne besser können?

Eigene Texte für abgeschlossen erklären. Und Improvisationstheater spielen.

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