Was ich noch sagen wollte

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Titelbild: Herlinde Pauer-Studer

Herlinde Pauer-Studer

Professorin für praktische Philosophie an der Universität Wien

Welcher philosophische Text hat Ihr Leben verändert?

Dies war Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus. Auf Anraten unseres Philosophielehrers im Gymnasium habe ich diesen Text gelesen – ohne ihn zu verstehen. Die philosophische Bedeutung dieses Werks überstieg schlicht meinen damaligen Horizont. Ich hatte ja noch keinen Logikkurs besucht und wusste nichts über den Bezug des Textes auf Bertrand Russells Auffassungen. Dennoch war ich fasziniert von Wittgensteins klarer, asketischer Sprache und seinem Anspruch, die philosophischen Probleme gelöst zu haben. Die Erklärungen unseres Philosophielehrers über die Analytische Philosophie taten ein Übriges: Ich gab meine Absicht auf, Chemie zu studieren und ging nach dem Abitur zum Philosophiestudium nach Salzburg.

Was ist Ihr Lieblingszitat?

Die Antwort fällt schwer – es gibt so viele wunderbare Zitate in der Philosophie. Hier ist eines meines Lieblingsphilosophen, David Hume. Im dritten Buch (Über Moral) seines Traktats über die menschliche Natur (1739/40) schreibt Hume: „So ist Eigennutz das ursprüngliche Motiv zur Festsetzung der Rechtsordnung, aber Sympathie für das öffentliche Interesse ist die Quelle der moralischen Anerkennung, die dieser Tugend gezollt wird.“ Humes Idee ist, dass Moral und Recht aus Gründen des wohlerwogenen Selbstinteresses eingeführt werden. Gleichzeitig verdeutlicht das Zitat, dass Hume das Selbstinteresse auf die Motive für die Schaffung dieser normativen Gebilde (er nennt sie „künstliche Tugenden“) beschränkt und die Legitimität von Moral und Recht unabhängig davon bestimmt werden muss – nämlich über Einsicht in allgemein teilbare Gründe, die für die normative Kraft dieser Institutionen sprechen. 

Welche philosophische Auffassung, von der Sie einmal überzeugt waren, haben Sie aufgegeben?

Aufgegeben habe ich die Idee, dass gute Philosophie nur „wissenschaftlich“ betrieben werden kann – also den „Methoden-Mythos“ des Wiener Kreises. Zu Beginn meines Studiums war ich im Bann dieses Zugangs, doch zunehmend fand ich die damit verknüpfte Orthodoxie einengend. Die Philosophen des Wiener Kreises haben enorme Leistungen vollbracht, doch für die Ethik und die Politische Philosophie war ihre Doktrin, dass (neben logischen) nur empirische Aussagen Sinn haben, verhängnisvoll. Es hat im Grunde bis zum Erscheinen von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) gedauert, bis sich die Moralphilosophie von diesem Dogma gelöst hatte. Dabei hatte die an Wittgensteins Spätphilosophie und seine Diskussion von Regeln und Sprachspielen anknüpfende Analytische Philosophie schon vorher Bedeutendes in der Metaethik und auch der Rechtsphilosophie geleistet: ich denke hier an die Arbeiten von Philippa Foot und an H.L.A. Hart’s Meisterwerk The Concept of Law (1961). 

Was stört Sie an der akademischen Philosophie? 

Ich selbst fühle mich in der akademischen Philosophie verankert. Ich schätze diese Form des Denkens und Argumentierens. Und es findet sich so viel Faszinierendes in den klassischen Texten der Philosophie, dass ich der akademischen Diskussionen nicht müde werde. Dennoch beobachte ich gewisse Entwicklungen mit einer gewissen Sorge: etwa den zunehmenden Druck, nur noch in peer-reviewed Journals zu publizieren. Prinzipiell ist das peer-review System sehr gut; es ist unabdingbar, um die eigenen Arbeiten zu verbessern. Allerdings darf die philosophische Fantasie nicht von immer spezieller werdenden Journal-Debatten verdrängt werden. Auch bedürfen manche philosophische Themen einer Erörterung, die weit über ein Paper hinausgeht. 

Woran arbeiten Sie gerade? 

Im Moment stelle ich eben einen Aufsatz über Reasoning fertig. Daneben arbeite ich an einem Artikel über konstitutive Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit (basierend auf meinem Buch Justifying Injustice. Legal Theory in Nazi Germany, CUP 2020). Anschließend möchte ich mich einem neuen Buchprojekt (Group Agency and Relational Normativity) zuwenden.
 

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