Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Jörg Noller

Jörg Noller

Privatdozent für Philosophie an der LMU München und Lehrstuhlvertreter für Ethik an der Universität Augsburg

Wie würden Sie Ihre Forschung charakterisieren?

Grundsätzlich nähere ich mich philosophischen Themen und Phänomenen von ihren (un)scheinbaren Randbereichen an. Ich glaube, dass wir auf diesem Weg Aufschluss über gewichtige philosophische Fragestellungen gewinnen können. Solche Rand- und Grenzphänomene sind epistemologisch das Problem des Irrtums und der Selbsttäuschung, neuerdings der künstlichen Intelligenz, praktisch das Problem des Unmoralischen sowie einer Ethik der Digitalität und des Anthropozäns, ontologisch das Problem der virtuellen Realität.

Woran arbeiten Sie gerade?

Nachdem ich kürzlich zu Kants 300. Geburtstag mein Buchprojekt „Was ist digitale Aufklärung?“ fertig gestellt habe, schreibe ich nun an einem Buch mit dem Titel „Ethik der Digitalität“. Es geht darum, unser Handeln unter den Bedingungen der digitalen Lebenswelt – im Zusammenspiel von Künstlicher Intelligenz, Big Data, Internet und virtueller Realität – neu zu bestimmen, zu problematisieren und zu orientieren. Außerdem schreibe ich zusammen mit einem Neuropädiater ein Buch über das Verhältnis von Kindheit und Digitalität. Das Buch handelt davon, wie digitale Technologien genuin kindliche Fähigkeiten und Eigenschaften adressieren und reaktivieren – im guten wie im schlechten Sinne.

Über welches Thema würden Sie gern einmal schreiben und warum haben Sie es bisher nicht getan?

Ich würde gerne ein Buch über die Ontologie virtueller Realität schreiben, merke aber, dass ich mir zuvor noch viele Grundlagen erarbeiten muss. Insbesondere muss ich noch mehr Klarheit über das Verhältnis von Virtualität, Simulation, Illusion, Fiktion, Wirklichkeit und Möglichkeit erlangen. Dabei kann auch die komplexe Begriffsgeschichte der Virtualität hilfreich sein, die erst noch geschrieben werden muss.

Was können wir aus der Philosophiegeschichte lernen?

Dass andere vor uns fast oder genau dieselben (guten oder schlechten) Gedanken gehabt haben wie wir, oftmals sogar in noch klarerer Form. Allerdings sind diese Gedanken aufgrund der zeitlichen Distanz in ihrer Klarheit häufig nicht mehr direkt zu erkennen. Zu viel hat sich in der Zwischenzeit geändert – nicht nur politisch und kulturell, sondern auch sprachlich. Deswegen besteht das Philosophische an der Philosophiegeschichte gerade auch darin, diesen Gedanken zu ihrer ursprünglichen Klarheit und damit zu ihrer ‚Aktualität‘ zu verhelfen.

Ist es immer gut, vernünftig zu sein?

Das hängt davon ab, was wir unter „vernünftig“ verstehen. Wenn darunter aber auch Emotionen fallen, wovon ich überzeugt bin, dann unbedingt! Wenn wir unter „vernünftig“ nur das zweckrationale Denken verstehen, dann sicherlich nicht. Denn allzu leicht instrumentalisieren wir dadurch, was eigentlich nicht instrumentalisiert werden kann und darf.

Warum schreiben Sie für die außerakademische Öffentlichkeit?

Weil ich mich bemühen möchte, meine Vernunft öffentlich zu gebrauchen, was nach Kant eine Form von Mündigkeit und Freiheit ist – auch wenn es mir nicht immer gelingt. Denn oft handelt es sich ja gar nicht um die Öffentlichkeit, sondern nur um eine Informationsblase, in der wir uns beständig bewegen, ohne sie als solche zu erkennen oder genauer: erkennen zu wollen.

Was ist Ihre déformation professionnelle?

Rückenschmerzen vom vielen Sitzen. Vielleicht hat doch Nietzsche Recht, wenn er sagt, man solle „keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung“? Aber ein Stehtisch ist zunächst ein guter Mittelweg.

Worauf in der Zukunft sind Sie am meisten gespannt?

Ob sich wirklich einmal, wie einige behaupten, eine Singularität einstellen wird, in welcher Maschinen Selbstbewusstsein erlangen und Mensch und Maschine verschmelzen. Ich habe da meine Zweifel...

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