Was ich noch sagen wollte
PhilPublica stellt vor

Luise K. Müller
Woran arbeiten Sie gerade?
Ich arbeite gerade hauptsächlich an zwei Fragen: einerseits möchte ich verstehen, wie der technologische Fortschritt, den wir im Moment vor allem im Zuge von digitalen Technologien sehen, unsere normativen Beziehungen und sozialen Praktiken verändert. Zum Beispiel arbeite ich im Moment mit einem Team von Neurolog:innen an einem Projekt, mit dem wir verstehen wollen, wie digitale Tools in der Medizin das moralische Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen transformiert. Die größere Frage, die dahintersteht, ist diese: wie können wir unseren technologischen Fortschritt normativ so gestalten, dass er zu mehr statt zu weniger Freiheit und Gleichheit führt?
Zweitens versuche ich den systematischen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Gerechtigkeit und dem der Gleichheit zu verstehen. Hier interessiert mich vor allem, ob dieser Begriffszusammenhang notwendig ist, oder ob wir uns Gerechtigkeitskonstellationen vorstellen können, in denen die Gerechtigkeitssubjekte nicht auch (moralisch) gleich sind. Ein potentieller Fall von solchen ‚asymmetrischen Gerechtigkeitsbeziehungen‘ wären hier zum Beispiel die Beziehungen zwischen Menschen und einigen (nichtmenschlichen) Tieren.
Was ist Ihre philosophische Lieblingsanekdote?
Beim ersten Treffen mit der neuen Freundin meines Schwagers, einer Naturwissenschaftlerin aus Minsk, fragt sie mich, was ich mache. Ich sei politische Philosophin, antworte ich. Oh, antwortet sie, ihr Großvater sei ebenfalls politischer Philosoph gewesen, damals, im sowjetischen Belarus! Ich bin begeistert und frage: hat er in Minsk an der Universität gelehrt? Ja, sagt sie, allerdings nur nebenbei – hauptberuflich war er Propaganda-Minister.
Natürlich ist das erstmal urkomisch, finde ich zumindest. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der diese beiden Tätigkeiten – als politischer Philosoph an der Universität und als Verantwortlicher für staatliche Propaganda – damals als offensichtlich systematisch verwandt verstanden wurde, gibt mir dann doch irgendwie zu denken . . .
Was würden Sie gern besser können?
Fliegen – ich bin Sportpilotin und habe eine Lizenz, aber viel zu wenig Zeit, um richtig in Übung zu bleiben.
Was stört Sie an der akademischen Philosophie?
Es gibt natürlich die bekannten Probleme der fehlenden Diversität bezüglich race, class, gender. Davon abgesehen ist eine Sache, die mich manchmal wahnsinnig macht, das institutionalisierte Micro-Management bei manchen Peer-Review-Verfahren. Ich befürworte Peer-Review ausdrücklich, und die Reviews sind in den meisten Fällen wirklich hilfreich – so zumindest meine Erfahrung bisher –, aber es gibt einige Reviewer (der berüchtigte „Reviewer 2“), bei denen die eigentlich als konstruktive Kritik vorgesehenen Kommentare schnell in sehr spezifische und auf die eigenen philosophischen Schwerpunkte bezogenen Referate umschlagen, die dem Paper nicht angemessen sind. Und dann muss man sie trotzdem einbauen, und am Ende wundern sich alle, warum viele Journalpaper so lang und so langweilig sind!
Welche/r Philosoph/in sollte mehr gelesen werden?
Elizabeth Anderson, weil sie messerscharfe philosophische Analysen über wichtige politische Themen mit einem tiefen Verständnis von empirischer Sozialwissenschaft kombiniert. Aber vielleicht sollten wir insgesamt auch einfach mehr lesen, was nicht im engeren Sinne zur eigenen Disziplin gehört. Es muss ja nicht gleich alles 100% interdisziplinär sein, aber manchmal gibt es in den anderen Disziplinen Diskussionen, die interessante philosophische Fragen aufwerfen.
Gibt es philosophischen Fortschritt? Wenn ja, was ist ein gutes Beispiel dafür?
Grundsätzlich bin ich angesichts der Geschichte hinsichtlich der Idee des Fortschritts vorsichtig. Aber wenn ich daran denke, dass eine philosophische Verteidigung moralischer Ungleichheit zwischen Menschen heute in der Disziplin nicht mehr ernst genommen würde, dann spricht das für Fortschritt. Hoffen wir, dass wir dieses ‚egalitäre Plateau‘ nicht mehr verlassen.