Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Anne Sophie Meincke

Anne Sophie Meincke

Forschungsprojektleiterin an der Universität Wien

Was ist Ihre erste Erinnerung an einen philosophischen Gedanken?

Im Alter von vier Jahren, an einem Sommernachmittag im Wald, fiel mir auf, daß ich existierte. Überrascht fragte ich mich, wo ich vor meiner Geburt war und – fast drängender noch – wo oder wie ich bisher war, vor der Entdeckung meiner Existenz: Was ist das für eine Existenz, die ihrer selbst nicht bewußt ist? Wie unterscheidet sie sich vom Nichtgeborensein? Sind nicht beide letztlich gleichbedeutend mit Nichtsein? Es schien mir, daß meine eigentliche Geburt erst jetzt stattgefunden hatte, und ich erklärte mir deren Möglichkeit mit meiner inzwischen erworbenen Sprachfähigkeit. Nur Wesen, die sprechen, so dachte ich, können von ihrer Existenz wissen und in diesem strengen oder eigentlichen Sinn existieren. (Heute denke ich dies nicht mehr.)

Woran arbeiten Sie gerade?

In meinem aktuellen Forschungsprojekt „Biologisches Handlungsvermögen und natürliche Freiheit“ entwickle ich eine biologisch fundierte Metaphysik des Handlungsvermögens und des freien Willens. Meine Hypothese ist, daß wir den freien Willen nur erklären können, wenn wir verstehen, wie Handlungen in eine natürliche Welt passen. Hierzu müssen wir zum einen den traditionellen anthropozentrischen Fokus der philosophischen Debatte überwinden, indem wir das Handlungsvermögen im gesamten Tierreich in den Blick nehmen. Zum anderen gilt es, die biologische und damit, wie ich meine, prozessuale Konstitution von Organismen theoretisch zu würdigen. Auf diese Weise kann dann auch der freie Wille als eine evolvierte biologische Funktion entmystifiziert werden. Weitere Themen meiner Forschung betreffen Fragen der Metaphysik der Person, der Prozeßmetaphysik und der feministischen Philosophie.

Welches Thema erhält in der Philosophie zu wenig Aufmerksamkeit? 

Die biologische Natur des Menschen. Viele Philosoph*innen scheinen zu befürchten, daß biologische Ansätze das (vermeintlich) spezifisch Menschliche am Menschen – z.B. den freien Willen, aber auch Subjektivität, Rationalität, Moralität – wegreduzieren. Hierbei wird ein reduktionistisches Verständnis der Biologie vorausgesetzt, das jedoch überholt ist. Organismen sind keine bloßen Reflexmaschinen. Subjektivität, Rationalität, Moralität, Freiheit etc. lassen sich vielmehr gerade aus der Biologie heraus verständlich machen, als Errungenschaften der Evolution. 

Was ist die gesellschaftliche Rolle der Philosophie?

Die Philosophie gehört zum Rückgrat der Demokratie. Eine funktionierende demokratische Gesellschaft braucht intellektuelle Substanz – Bildung, Wissenschaften, Künste. Unter den Wissenschaften kommt der Philosophie die spezielle Verantwortung zu, kritisches Denken und geistige Autonomie kontextübergreifend einzuüben, zu fördern und langfristig zu erhalten.

Warum schreiben Sie für die außerakademische Öffentlichkeit?

Alle Menschen stellen sich irgendwann in ihrem Leben philosophische Fragen. Als akademische Philosoph*innen haben wir das Privileg, uns mit diesen Fragen professionell zu beschäftigen. Unsere philosophischen Einsichten sollten nicht im Elfenbeinturm verbleiben, können sie doch einen wertvollen Beitrag nicht nur zur existenziellen Selbstverständigung der oder des Einzelnen leisten, sondern auch zur intellektuellen Selbstverortung der demokratischen Gesellschaft.

Ist die Philosophie eine Wissenschaft?

Ja. Wissenschaftliche Tätigkeit ist, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1973 unter Berufung auf Wilhelm von Humboldt formulierte, „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“ (BVerfGE 35, 79 (112)). Historisch ist die Philosophie die Mutter aller Wissenschaften.

Was ist Ihre Definition von Philosophie?

Philosophie ist jene Wissenschaft, die mittels rationaler Argumente die Wirklichkeit in allgemeinsten Hinsichten zu erkennen und zu verstehen sucht. Je nach Fragestellung können philosophische Argumente sich auf empirische Erkenntnisse der Einzelwissenschaften stützen, sie müssen dies jedoch nicht. Die Philosophie demontiert das scheinbar Offensichtliche und Selbstverständliche und lotet die Grenzen des Wißbaren aus. Die besten Antworten sind dabei solche, die neue interessante Fragen aufwerfen. Nicht ganz unzutreffend behauptete der italienische Publizist Giovanni Guareschi: „Die Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher aufbohren, ohne sie füllen zu können.“ Allerdings – ohne die manchmal schmerzhaften philosophischen Tiefenbohrungen würde das intellektuelle Gebiß der Menschheit früher oder später stumpf und unbrauchbar.
 

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