Was ich noch sagen wollte

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Titelbild: Maria-Sibylla Lotter

Maria-Sibylla Lotter

Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum

Was war Ihr erster Kontakt mit der Philosophie? 

Irgendwann so mit 14 oder 15 traf ich auf das „Kapital“ von Marx und war schon nach den ersten Sätzen bezaubert. So wurde ich für ein paar Jahre Marxistin. Zum Glück gab es eine Bibliothek mit Lesesaal neben meiner Schule, in der ich jeden Tag eine oder zwei besonders langweilige Stunden schwänzte, um nebenan das Kapital zu studieren. Ja, das waren noch die guten alten Zeiten, als eine verhaltensauffällige Schülerin trotz ständiger Lehrerbeschwerden nicht gleich von der Schule flog. Trotzdem war es für eine dauerzappelnde, konzentrationsunfähige Jugendliche gar nicht so einfach, die Disziplin aufzubringen, das ganze Buch durchzuarbeiten.

Welchen Rat hätten Sie gern zu Beginn Ihrer Laufbahn erhalten?

Nur das zu machen, was mich wirklich interessiert. Vielleicht hätte ich dann nicht so lange an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, wenn ich mich nicht überwinden konnte zu lesen, man unbedingt gelesen haben musste, sondern andere Texte, die mich irgendwie anzogen. Erst seit sehr kurzer Zeit dämmert mir, dass das nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke sein könnte. 
Der Rat, der mir tatsächlich gegeben wurde – nein, das ist zu deprimierend, um es auszusprechen.

Was ist Ihre Definition von Philosophie?

Sehr gut gefällt mir die Definition von John Dewey: „Philosophy [...] has no call to create a world of ,reality’ de novo, not to delve into secrets of Being hidden from common sense and science. […] Philosophy as a critical organ becomes in fact a messenger, a liaison officer, making reciprocally intelligible voices speaking provincial tongues, and thereby enlarging as well as rectifying the meanings with which they are charged.”

Woran arbeiten Sie gerade?

An der Frage, warum die Rache im Vergleich zum Verzeihen einen so schlechten Ruf hat – schuld daran sind natürlich die Philosophen –, und inwieweit wir hier eine kulturelle Selbsttäuschung pflegen.

Worüber würden Sie gern einmal schreiben und warum haben Sie es bisher nicht getan?

Über das Komische und seine Bedeutung für die Ethik. Dummerweise bin ich bei anderen Themen hängengeblieben, die überhaupt nicht komisch sind: Schuld, Verantwortung, Lüge, Meinungsfreiheit – und jetzt auch noch Rache.

Was ist Ihre philosophische Lieblingsanekdote?

Weniger eine Anekdote als eine Bemerkung, von Whitehead über Russell: “Bertie thinks I am muddleheaded; but then I think he is simpleminded”. 

Was würden Sie gern besser können?

Singen.

Was ist die gesellschaftliche Rolle der Philosophie?

Sie sollte unzeitgemäß sein und die Dinge aus einer anderen Perspektive beleuchten.

Soll man glauben, was die Mehrheit glaubt?

Nein, schon aus Prinzip nicht.

Welches Vorurteil gegenüber akademischen Philosophen ärgert Sie am meisten?

Eigentlich machen mir alle Vorurteile gegenüber der akademischen Philosophie Freude.

Warum schreiben Sie für die außerakademische Öffentlichkeit?

Weil es reizvoll ist, für Leser ohne Langeweile-Toleranz Zusammenhänge zu verdichten, die sie schon ahnen, aber oft noch nicht klar formulieren können.

Worauf kommt es Ihrer Ansicht nach besonders an, wenn man für die Öffentlichkeit schreibt?

Über das zu schreiben, was einen wirklich umtreibt. Das muss nicht immer im ernsten Ton sein.

Was spricht gegen Philosophenkönige?

Die Lebenserfahrung mit Vertretern der praktischen Philosophie.
 

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