Was ich noch sagen woll­te

Phil­Pu­bli­ca stellt vor

Titelbild: Birgit Recki

Bir­git Recki

Pro­fes­so­rin für Prak­ti­sche Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Ham­burg

Wel­cher phi­lo­so­phi­sche Text hat Ihr Leben ver­än­dert? 

Die Kri­tik der rei­nen Ver­nunft, und zwar durch den guten Wil­len zum Kurz­schluss vom tran­szen­den­ta­len auf das em­pi­ri­sche Selbst­be­wusst­sein. Der Ge­dan­ke der Ko­per­ni­ka­ni­schen Wende – der Kon­sti­tu­ti­on von Wirk­lich­keit durch die Leis­tung des er­ken­nen­den Sub­jekts – hat mei­nem Selbst­be­wusst­sein einen un­ge­ahn­ten Auf­schwung er­teilt und sich un­mit­tel­bar auf meine Leis­tungs­be­reit­schaft aus­ge­wirkt. Wenn für all das, was ich um mich herum sah, mein ak­ti­ver An­teil „immer schon“ un­ab­ding­bar war – was soll­te mich dann noch über­for­dern? Mit einem Mal schien alles mög­lich. – Für mich im Rück­blick das idea­le Bei­spiel eines pro­duk­ti­ven Miss­ver­ständ­nis­ses.

Wel­che phi­lo­so­phi­sche Auf­fas­sung, von der Sie ein­mal über­zeugt waren, haben Sie auf­ge­ge­ben? 

Die Über­zeu­gung, dass die ge­sell­schaft­li­che Si­tua­ti­on ein to­ta­ler Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang wäre, so dass alles Han­deln von vorn­her­ein dazu ver­ur­teilt wäre, ent­we­der ideo­lo­gi­sches Dekor zu sein oder tra­gisch zu schei­tern. 

Was ist Ihr Lieb­lings­zi­tat? 

„Die am Him­mel­fahrts­ta­ge durch Ver­salt­zung des But­ter­fi­sches früh mor­gen­des fehl­ge­schla­ge­ne Ko­che­rey muß nicht mehr vor­kom­men.“ (Im­ma­nu­el Kant)

Ist es immer gut, ver­nünf­tig zu sein? 

Ja. 

Hilft Ex­per­ti­se in Ethik, ein bes­se­rer Mensch zu wer­den? 

Ja. Vor­aus­ge­setzt nur das, was Ernst Tu­gend­hat „Ernst­haf­tig­keit“ ge­nannt hat: dass man ‚es wirk­lich wis­sen will‘. Dann hilft Ex­per­ti­se einem durch die Kennt­nis des wei­ten Fel­des mög­li­cher so­phi­sti­ca­ti­on bei der (Selbst-​)Er­kennt­nis, und zwar bei der Ver­mei­dung der Ra­tio­na­li­sie­rungs­stra­te­gien, mit denen man ver­sucht, sich den Kon­se­quen­zen der ei­ge­nen Ein­sicht zu ent­win­den. 

Ihr Le­bens­mot­to? 

Man kann nicht alles haben.

Könn­ten Sie je­man­den küs­sen, der Phi­lo­so­phen für Schwät­zer hält? 

Ja. – „Phi­lo­soph“ ist schließ­lich (an­ders als die aka­de­mi­schen Titel „Dr.“ und „Pro­fes­sor“) keine ge­setz­lich ge­schütz­te Be­zeich­nung. Jeder kann sich Phi­lo­soph nen­nen. Unter denen, die es un­be­denk­lich tun, ist auch in mei­nen Augen man­cher Schwät­zer. – Und der Satz „Ich könn­te ihn küs­sen“ ist eine me­ta­pho­ri­sche Ar­ti­ku­la­ti­on der Wohl­tat, dass der An­de­re einem aus der Seele spricht. 
Jetzt stel­le man sich eine phi­lo­so­phi­sche Talk-​Runde vor, in der sich ei­ni­ge der üb­li­chen Ver­däch­ti­gen zu­sam­men­ge­fun­den haben: der jo­via­le Orgasmus-​Experte mit dem au­ßer­ge­wöhn­li­chen Le­se­pen­sum; der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler mit der schnel­len Ver­wer­tungs­ka­pa­zi­tät und der Vor­lie­be für linke Ge­mein­plät­ze; der Jung­star unter den Pro­fes­so­ren, der seit sei­ner frü­hen Be­ru­fung ra­di­kal Schluss ge­macht hat mit der Selbst­dis­zi­plin und in einem fort ins Kraut schießt – und als Zu­schau­er einen nicht mit den aka­de­mi­schen Stan­dards im Fach ver­trau­ten Mann mit funk­tio­nie­ren­der Ur­teils­kraft. Der wird leicht fin­den: „Diese Phi­lo­so­phen sind wirk­lich Schwät­zer.“ – Da könn­te es pas­sie­ren, dass ich seuf­ze: „Ich könn­te ihn küs­sen!“ 

Gibt es phi­lo­so­phi­schen Fort­schritt? Wenn ja, was ist ein gutes Bei­spiel dafür? 

Ein gutes Bei­spiel für phi­lo­so­phi­schen Fort­schritt ist das un­be­stech­li­che Ur­teil, das den Aus­gangs­punkt von Kants Lehre vom höchs­ten Gut bil­det: dass die Tu­gend (Glücks­wür­dig­keit) nicht schon das Glück ist. 

Wor­über kann selbst der böse Dämon Sie nicht täu­schen? 

Über das, was ich sehe, so­bald mein Miss­trau­en ge­weckt ist. 

Wel­chen Ge­gen­stand, der nicht dem phy­si­schen Über­le­ben dient, wür­den Sie mit auf die Ro­bin­son­in­sel neh­men? 

Das Hand­buch „Ich baue mir ein Boot. Eine idio­ten­si­che­re An­lei­tung“. 

Warum schrei­ben Sie für die au­ßer­aka­de­mi­sche Öf­fent­lich­keit?

Um ehr­lich zu sein: weil ich mir da ruhig auch mal Po­le­mik (und im Üb­ri­gen: fast jede Menge Iro­nie und Ex­pres­si­vi­tät) er­lau­ben kann, die ich zwar für er­kennt­nis­träch­tig halte, aber selbst­ver­ständ­lich nicht für wis­sen­schafts­taug­lich.
 

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