Was ich noch sagen wollte
PhilPublica stellt vor
Andrea Esser
Was ist Ihre erste Erinnerung an einen philosophischen Gedanken?
Ein Trümmergrundstück in der Nähe unseres Wohnhauses. Ich sitze auf einem alten Autoreifen, bin etwa sieben Jahre alt und schaue in die Pfütze vor mir. Im Wasser spiegeln sich die Blätter eines Baumes, es liegen Kaugummipapiere darin, ein paar Zigarettenkippen, eine Coladose, irgendwo ein Apfelputzen und ich frage mich: Was ist eigentlich Schmutz? Was ist Müll? Wieso sind Dinge, die gerade noch benutzt oder sogar gegessen wurden, mit einem Mal etwas Ekelhaftes, Schmutziges, Müll eben? Liegt es an dem Ort? Daran, dass sie nun mit Dingen zusammen sind, zu denen sie irgendwie nicht passen? Gibt es so etwas wie Schmutz überhaupt? Kann Schmutz nicht auch schön sein, wenn man nicht daran denkt, was die Dinge waren oder wenn man sie nur ansieht? Jahre später sitze ich an einer Dissertation über Ästhetik und Kunsttheorie und gehe diesen Gedanken nach. Es gibt Zeitgenossen, die – in Hygienekonfliktfällen – tatsächlich behaupten, ich wisse heute noch nicht genau, was Schmutz sei …, aber dann zücke ich Christian Enzensbergers Größerer Versuch über den Schmutz …
Welcher philosophische Text hat Ihr Leben verändert?
Letztlich ist es wohl Kants Kritik der Urteilskraft. Nicht, dass sich bei der Lektüre dieses Textes mit einem Schlag eine alles umwerfende Einsicht aufgetan hätte – Einsichten habe ich dem Text eher mühsam abgerungen, und sie fügten sich auch keineswegs immer gleich zusammen. Aber das Buch hat mich, wie ich heute feststelle, mein ganzes akademisches Leben begleitet. Das ahnte ich nicht, als ich während meines Studiums zu einer Lesegruppe älterer Mitstudierender eingeladen wurde. Sie wollten die – damals noch nicht sonderlich beachtete – dritte Kritik lesen. Das haben wir dann über viele Jahre hinweg gemacht, uns Satz für Satz durchgebissen. Über die Beschäftigung mit aktuellen Theorien bin ich später wieder auf die Kritik der Urteilskraft zurückgekommen und habe versucht, sie in einen Dialog mit der analytischen Ästhetik der Gegenwart zu bringen. Nach der Habilitation bekam ich das Angebot, die dritte Kritik im Rahmen von Kants Akademieausgabe neu herauszugeben: Ein sogenanntes „Schildkrötenprojekt“, wie sich herausstellte. Jetzt, nach 18 Jahren, sieht es danach aus, dass es – hoffentlich pünktlich zum 300. Geburtstag Kants – zum Abschluss kommt.
Was ist Ihr Lieblingszitat?
Es stammt, vielleicht nicht verwunderlich, aus der Kritik der Urteilskraft:
„Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwey Dinge gegeben: die Hoffnung, und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können“.
Warum ist Philosophie so kompliziert?
Weil die Dinge so kompliziert sind. Umberto Eco hat einmal gesagt: „Die Leute sollen lernen, schwierige Dinge zu denken, denn weder das Mysterium noch die Evidenz sind einfach“. Fand ich überzeugend.
Welche Musik soll auf Ihrer Beerdigung gespielt werden?
Aus Henry Purcells Dido und Aeneas: Dido’s Lament. Entsetzlich traurig. Kann man eigentlich niemandem antun. Dann vielleicht doch lieber: Van Morrison, Sometimes we cry …
Ihr Lebensmotto?
“There must be more to life than having everything …” ist mir recht früh begegnet in dem wunderbar surrealen Kinderbuch von Maurice Sendak, Higgelti Piggelti Pop!
Ist die Philosophie eine Wissenschaft?
Nicht nur, aber auch.
Wenn Sie Zeit hätten, ein Buch zu schreiben, worüber würden Sie schreiben?
Über den Tod. Nicht an und für sich, sondern darüber, wie viel, aber auch: wie abstrakt (im Hegelschen Sinne) über Tod und Sterben in unserer gegenwärtigen Gesellschaft oft gesprochen, gedacht und geschrieben wird – und welche Sprachlosigkeit sich dennoch in der konkreten Konfrontation mit dem Tod mitunter einstellt.
Ich hoffe, das erlebe ich noch.
Worauf kommt es Ihrer Ansicht nach besonders an, wenn man für die Öffentlichkeit schreibt?
Nicht vorrangig aus der Rolle von Expert:innen heraus philosophische Einsichten „für die Öffentlichkeit“ aufzubereiten, sondern mit der Öffentlichkeit ins Gespräch zu kommen. Das könnte bedeuten: Fragen oder Gedanken aus der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung aufzunehmen, und sich von ihnen auch philosophisch irritieren zu lassen. Es macht einen Unterschied, auch im Schreiben, wenn man die Philosophie selbst als ein Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit begreift und sich nicht völlig außerhalb wähnt.