Was ich noch sagen wollte

PhilPublica stellt vor

Titelbild: Susan Neiman

Susan Neiman

Professorin für Philosophie und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam

Was war Ihr erster Kontakt mit der Philosophie?

Mit 16 las ich (fast) alles von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, einschließlich der Autobiographien. Ich lebte in der Provinz und hatte die Schule früh verlassen, so ging ich davon aus, das seien typische Philosophen. Da habe ich mich entschieden, Philosophie zu studieren.

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich schreibe meine Gifford Lectures für den kommenden Frühjahr über das Heldentum, bzw. über die Frage, warum das historische Subjekt heute das Opfer ist, nachdem die Geschichte über zwei Jahrtausende auf Helden fokussiert war.

Auf welche nichtphilosophische Leistung sind Sie stolz?

Auf einen langen Roman, der 2022 veröffentlicht wird.

Was würden Sie gern besser können?

Mehr Sprachen.

Welches Thema erhält in der Philosophie zu wenig Aufmerksamkeit?

Wahrscheinlich gibt es Hunderte. Leider bleiben wir meist bei einem Raster vorgeschriebenen Themen, ohne zu merken, dass auch die großen Philosophen des Kanons sich für mehr interessierten als wir. Drei Beispiele aus meiner eigenen Arbeit: das Böse, das Erwachsenwerden, das Heldentum. Bei jedem Thema ist mir gesagt worden, das sei kein richtiges philosophisches Thema, bis ich zeigte, dass auch Kant über jedes der drei intensiv nachgedacht hat. Das waren einfach die Themen, die mich interessieren; sicherlich gibt es sehr viel mehr, wenn wir jenseits der vorgegebenen Muster schauen.

Welches philosophische Thema wird am meisten überschätzt?

Die Erkenntnistheorie. Niemand anders als Kant hat geschrieben, nur Pedanten interessierten sich für die Frage, ob man den Skeptizismus widerlegen kann. Und dennoch wird gelehrt, die Erkenntnistheorie sei der Leitfaden der modernen Philosophie. Ein Jammer, weil es so viele interessantere Themen gibt.

Was außerhalb der Philosophie hat Sie am meisten geprägt?

Die Literatur.

Wenn Sie ein zweites Leben hätten, in dem es keine Philosophie gäbe, was würden Sie damit anfangen?

Mehr Literatur schreiben. Gern auch Drehbücher. Wenn ich es könnte, Lieder.

Würden Sie Ihren Kindern raten, Philosophie zu studieren?

Habe ich getan, aber sie sind alle der Meinung, sie bekämen genug Philosophie zu Hause. Ich würde aber jedem Menschen raten, Philosophie zu studieren, allerdings nie ohne viele andere Fächer.

Was stört sie an der akademischen Philosophie?

Ihre Weltfremdheit. Außerdem ihr Verdacht, gut geschriebene Texten seien unseriös.

Ist die Philosophie eine Wissenschaft?

In der amerikanischen analytischen Tradition, in der ich sozialisiert wurde, war es buchstäblich Unsinn zu denken, die Philosophie sei eine Wissenschaft. Seit vielen Jahrzehnten, in dem ich in Deutschland lebe, versuche ich mir eine deutsche Sichtweise anzueignen, aber es gelingt mir nicht – wohl weil ich mittlerweile überzeugt bin, dass die Philosophie keine Wissenschaft sein sollte.

Warum schreiben Sie für eine außerakademische Öffentlichkeit?

Eigentlich habe ich immer gedacht, das sei der Sinn der Sache – deshalb habe ich mich auch schnell für die Aufklärung begeistert. Keiner der Aufklärer wäre damit zufrieden gewesen, nur für seine Kollegen oder seine Doktoranden zu schreiben, zumal die meisten keine hatten. Selbst Kant, der alles anders als ein begnadeter Schriftsteller war, schrieb 15 gut lesbare Aufsätze zu hochpolitischen Themen für die Berlinische Monatsschrift. 
Und das endete nicht mit der Aufklärung. Emerson und Thoreau z. B. haben sich stark gegen die Sklaverei engagiert, nicht nur in vielen Schriften und Reden, sondern auch mit Taten, die damals illegal waren. Allerdings wird darüber auch unter amerikanischen Philosophen geschwiegen – obwohl das Gebäude des Instituts für Philosophie in Harvard Emerson Hall heißt. Am Eingang steht ein überlebensgroßes Denkmal von Emerson. Ich verstehe wirklich nicht, warum die Philosophiegeschichte so erzählt wird, als wolle die Philosophie weltfremd sein, statt zum Selberdenken in der Gesellschaft beizutragen. Beispiele für Letzteres gibt es genug.

Welche Musik soll auf Ihre Beerdigung gespielt werden?

Endlich eine einfache Frage! Von Bob Dylan: “Ring Them Bells”, “It’s Alright Ma”, “Mississippi”. Von Leonard Cohen: „Heart with no Companion”, “If It Be Your Will”, “Come Healing”.
 

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